Monday-Talk: Geoutet.

Ich sitze in der Straßenbahn. Es ist Samstagnachmittag, die Bahn ist überfüllt und mein Geruchssinn überfordert von einer nicht zu lokalisierenden Wolke Frittenduft. Eng aneinander reihen sich die bummelwütigen und zugleich, von den klimatischen Bedingungen des öffentlichen Nahverkehrs, gestressten Großstädter. Neben mir sitzt ein Herr, geschätzt Mitte Dreißig.

Ich war noch nie besonders gut darin, meine Augen bei mir zu lassen. Vor allem dann nicht, wenn ich nebst dem Beobachten meiner Umgebung, aufgrund vergessener Kopfhörer, keine adäquate Beschäftigungstherapie verfügbar habe. So sehe ich mich um und erspähe einen (oder auch mehrere) Blicke auf das Smartphone des Mittdreißigers neben mir. Ich muss schmunzeln. Er spielt grad eine Runde Tinder, witzig. Das mache ich ja auch des Öfteren in der Bahn…

Auf einmal steht er auf. Er will aussteigen, denke ich. Aber nein, der Mittdreißiger fühlte sich augenscheinlich nicht mehr wohl an seinem Platz und stellt sich nun direkt an die Tür, in die Ecke von Sitzreihen und Ausgang. Habe ich ihn vergrault? Fühlte er sich beobachtet? Oder gar geoutet als Single, der nun peinlich berührt die Flucht ergreifen musste, um meinem eventuellen Urteil über sein Handeln entgehen zu können?

Kurz darauf muss ich aussteigen und treffe eine liebe Freundin. Wie würde sie mein Erlebnis interpretieren?

Lauri muss schmunzeln. Ihre Datingplattformaktivitäten findet zumeist daheim statt oder ein wenig Weinsäuselig mit Freunden am Abend. Nichtsdestotrotz würde sie niemanden verurteilen, der in der Bahn ein wenig Däumen-Wechsel-Dich spielt. Vielmehr teilt sie jenen Gedanken, welcher auch mich als erstes traf. „Witzig, der Typ ist also auch da angemeldet“ 

Traut man den Zahlen, die so im Netz kursieren, so steigt die Anzahl der Nutzer von Tinder & CO täglich fast exponentiell. Gibt es also überhaupt irgendeinen Grund, sich „schlecht“ zu fühlen? Macht es nicht sowieso fast jeder und ist es nicht auch vollkommen OK, wenn man eine Bahnfahrt dazu nutzt? Ich denke doch. Und wenngleich die Auffassung über die unterschiedlichen Urteilsgrundlagen der Plattformen auseinander geht, so sollte man nie vergessen, dass es sich um ein Spiel handelt, welches auf beiden Seiten mit Installation der App akzeptiert wurde. Werten und Bewerten, oberflächlich, schnell und wohl zumeist weniger reflektiert als einfach aus dem Bauch heraus.

Lieber Mittdreißiger, du magst vielleicht geoutet sein als Single, aber hey – das Spielchen spielen wir alle gerne mit;)